Zwischen Aufklärung und Fehldiagnose: Die Rolle sozialer Medien bei psychischen Störungen
- Anna-Luca
- vor 13 Stunden
- 4 Min. Lesezeit

Wenn du in letzter Zeit soziale Medien wie Instagram oder TikTok verwendet hast, bist du bestimmt schon über Inhalte gestolpert, die einen ähnlichen Titel wie die folgenden tragen:
„4 Anzeichen, dass du ADHS hast!“
„Daran erkennst du, dass du ein Kindheitstrauma erlebt hast, aber nichts davon
weißt!“
„Autismus-Burnout Check-List“
Ein Blick in die Kommentare verrät, dass sich viele Zuschauende in den beschriebenen Symptomen und Situationen wiedererkennen und verstanden fühlen. Vielleicht hat jemand aus deinem Umfeld dir auch schon einmal von einer vermuteten Diagnose auf Basis von Videos erzählt. Welche Problematik dieses Phänomen mit sich bringen kann, schauen wir uns hier genauer an.
Immer mehr Inhalte über mentale Gesundheit werden in den sozialen Medien veröffentlicht. Aufklärungsarbeit und Berichte von persönlichen Erfahrungen können Betroffenen helfen, sich weniger allein zu fühlen. Korrekte Informationen über psychische Erkrankungen können dazu beitragen, Stigmata entgegenzuwirken. Positiv ist auch, wenn Personen mit psychischen Problemen ermutigt werden, sich professionelle Hilfe zu suchen. Jedoch gibt es auch Schattenseiten dieser Inhalte – problematisch sind besonders Formulierungen wie jene, die die Personen hinter den oben genannten (tatsächlich existierenden) Beispielen verwenden – denn diese können zu Selbstdiagnosen einladen.
Welche Risiken bringen Selbstdiagnosen mit sich?
Psychische Erkrankungen und der Prozess einer Diagnosestellung sind komplex. Nicht nur reichen die wenigen Symptome, die in Videos häufig als entscheidend dargestellt werden, in keinem Fall für eine Diagnose aus – dazu kommt, dass diese Videos häufig Fehlinformationen enthalten. Falsche Selbstdiagnosen werden dadurch wahrscheinlicher, potenzielle andere Erkrankungen oder Ursachen für Symptome können übersehen werden, auch Ängste oder eine Verschlechterung existierender Symptome können auftreten. Sich die Komplexität einer Diagnosestellung ohne Erfahrungen im klinischen Setting – beruflich oder persönlich – vorzustellen, kann schwierig sein. Folgende Aspekte gehören immer dazu:
• Betrachtung der Krankheitsgeschichte
o Frühere Erkrankungen, Familiengeschichte psychischer Erkrankungen, Lebensereignisse, Medikamenten- und Substanzkonsum, aktuelle Symptome
• Klinische Instrumente
o Standardisierte Interviews und Fragebögen, die wissenschaftlich überprüft
und für deren Anwendung Fachpersonal geschult wird
• Diagnosekriterien
o Nach offiziellen Klassifikationen zur klinischen Diagnostik mit exakter Beschreibung und Entscheidungsregeln
• Psychopathologischer Befund
o Beobachtung von Sprache, Verhalten, Denkweise, Stimmung, kognitiven Fähigkeiten
o Klinische Beurteilung und Einordnung der Beobachtungen
• Ausschluss körperlicher Ursachen für Symptome
o Körperliche Untersuchungen und Labortests
Hierbei handelt es sich um eine gekürzte Übersicht – die Komplexität und Ausführlichkeit von Diagnosestellungen und die Gründe, warum Diagnosen psychischer Erkrankungen immer durch Fachpersonen gestellt werden sollten, werden deutlich. In der Regel ist die Untersuchung multiprofessionell, da neben den psychologischen Tests auch immer ärztliche Untersuchungen dazugehören. Um die richtige Entscheidung für die Behandlung der vorliegenden Diagnose oder Symptome zu treffen, ist ebenfalls ein professionelles Urteil wichtig.
Warum scheinen sich zuletzt so viele Personen selbst im Internet zu diagnostizieren?
Eine große Rolle scheinen dabei die Algorithmen der sozialen Medien zu spielen. TikTok
beispielsweise zeigt Nutzer:innen basierend auf ihren vorherigen Aktivitäten Inhalte an, mit denen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder interagieren werden. Dadurch, dass die Algorithmen personalisiert und individuell sind, empfinden manche den ihnen empfohlenen Content als so passend, als würden ihre Gedanken gelesen werden. In einigen Fällen bekommen sie auch das Gefühl, durch den vorgeschlagenen Content über Störungsbilder diagnostiziert zu werden. Manche Personen berichten auch, sie hätten das Gefühl, ihre „For You“-Seite wäre eine Darstellung ihrer Identität und unterbewusster Gedanken, unabhängig davon, ob die Inhalte vorher Teil ihres Selbstbilds waren oder nicht. Was hier passieren kann, nennt sich „looping effect of human kinds“ – ein Kreislauf, durch welchen sich Personen an ein Label anpassen, das ihnen gegeben wurde. Einige Wissenschaftler:innen bezeichnen den Einfluss der Algorithmen als „diagnostischen selbsterfüllenden Algorithmus“ in Anlehnung an die selbsterfüllende Prophezeiung. Wenn dich interessiert, was dahintersteckt, findest du hier mehr dazu.
Selbstdiagnosen als Teil der eigenen Identität wurden zuletzt von Forschenden besonders bei jungen Mediennutzer:innen beobachtet. Auf der Suche nach Zugehörigkeit und Identität kann eine Überidentifikation mit (Selbst-)Diagnosen entstehen. Wenn Fachpersonen der vorgeschlagenen Selbstdiagnose nicht zustimmen, kann dadurch großer Unmut bei Patient:innen entstehen, weil sie diesen Teil ihrer Identität schützen möchten. In manchen Fällen führt das zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Gesundheitssystems, die in einigen Online-Communities weit verbreitet ist. Dieses Phänomen zeigt sich auch bei Communities, die psychische Erkrankungen verherrlichen und damit seit Jahren immer wieder in der Kritik stehen. Fatal ist daran, dass durch die Ablehnung des Gesundheitssystems nicht nur eine professionelle und allumfassende Diagnosestellung fehlt, sondern vor allem auch die passende Behandlung. Das kann für Betroffene gefährlich sein. Fest steht: Die häufigen Selbstdiagnosen entstehen vermutlich durch ein buntes Zusammenwirken aus einem häufig schnellen Konsum vieler Informationen, Algorithmen,Informationen, die irreführend oder lückenhaft sind und Formulierungen, die zu Selbstdiagnosen einladen.
Welche Fragen können wir uns stellen und was können wir berücksichtigen, um uns
davor zu schützen?
• Welche Profession hat die sprechende Person? Hat sie eine fachspezifische Ausbildung?
• Gibt es Quellenangaben? Wenn ja, sind diese wissenschaftlich fundiert und verlässlich?
• Handelt es sich um eine umfassende Darstellung oder nur einen Ausschnitt?
• Berichten andere Quellen dasselbe?
• Berücksichtige, wie komplex eine tatsächliche Diagnosestellung ist – Vorsicht ist geboten bei Formulierungen wie „an diesem Symptom erkennst du diese psychische Erkrankung“
• Wenn du oder eine Person in deinem Umfeld Leidensdruck aufgrund von Symptomen verspürt, sollte eine Fachperson aufgesucht werden, um eine umfassende Diagnostik durchzuführen und die richtige Behandlung zu finden
• Weitere Tipps zum Erkennen von Desinformationen im Internet findest du hier
Fazit
Nicht alle Inhalte, die in sozialen Medien über mentale Gesundheit zu finden sind, sind schädlich. Neben Communities, die das Gesundheitssystem ablehnen, gibt es auf der anderen Seite auch unterstützende Gruppen, die zum Teil von Fachpersonen oder Organisationen moderiert und mitgestaltet werden. Aufgrund anhaltender Stigmatisierungen ist die Aufklärung über psychische Störungen weiterhin relevant. Wichtig ist, zwischen aufklärenden Inhalten und falschen Informationen zu unterscheiden. Beispielsweise kann es durchaus sinnvoll sein, über Symptome eines bestimmten Störungsbildes aufzuklären, allerdings sollte transparent kommuniziert werden, ob es sich um eine Fachperson handelt oder nicht. Bei zu Selbstdiagnosen verleitenden Formulierungen solltest du hellhörig werden und dich selbst vor Fehlinformationen schützen. Kurz gesagt: Behalte die Quellen im Blick und gehe achtsam mit online präsentierten Informationen um. Wenn du oder jemand, der dir nahesteht, Leidensdruck spürt, wende dich an professionelle Hilfe. Optionen dafür findest du hier.
Tipps für den Umgang mit psychisch Erkrankten in der Familie: hier klicken
コメント